Wanderung 1: (21.10.2018)
Es ist Abend in der Festhalle in Tettau und hier, in dem relativ engen Tal wird es schneller dunkel, als wir es aus Siegburg gewöhnt sind. Alle »Grenzgänger« samt dem Personal haben gegessen, alles ist gespült und es kehrt eine wohlige Ruhe ein. Die Arbeiten sind geschafft, die Kinder und Jugendlichen spielen in angespannter Ruhe »Wehrwolf« oder sitzen in Eintracht beieinander und alle wirken sehr entspannt.
Ich stehe auf dem Außengelände der Halle und betrachte die umliegenden Berge. Sacht und sanft dringt der Nebel unaufdringlich in die Täler, weicht die Grenzen der geometrischen Formen auf, um sie wenig später ganz verschwinden zu lassen. Alles wirkt irgendwie weiter entfernt und selbst laute Geräusche dringen wie durch Watte gedämpft an unser Ohr.
Irgendwie kommt der Nebel aber in Begleitung einer oft unbeliebten Freundin – der Melancholie. Wir wanderten oder fuhren heute durch eine wunderschöne Landschaft. Der altbekannte »Indian Summer« ließ die Bäume ein letztes Mal in den herbstlichen Farben blühen und die Blätter gaben ihre letzte Kraft, die Landschaft zu schmücken. Und auf den rauen Hochebenen deren zerzauste Bäume eine Geschichte von den wilden Stürmen zu erzählen wussten, stießen wir auf urzeitliche Rinder. Wir waren sicher, dass es sich um Rinder handeln musste, aber diese Rasse hatte ich zuvor noch nie leibhaftig vor mir stehend gesehen. Schwach konnte ich mich erinnern, diese mächtigen Tiere mit ihren langen Haaren irgendwann in einer Dokumentation über Schottland gesehen zu haben – schottische Hochlandrinder. Das Internet half uns bei der Bestimmung dieser Rinderrasse, die aufgrund ihrer Robustheit wohl auch in diesem Teil von Deutschland durchaus häufiger anzutreffen ist. Nun kann und will ich das schottische nicht mit dem deutschen Wetter vergleichen, aber es ist unschwer zu erkennen, dass diese Landschaft durch starke Winde und große Temperaturschwankungen dominiert und geformt wird. Die Landwirtschaft scheint hier immer schon eine eher untergeordnete Rolle gespielt zu haben und die oft schon dem Verfall anheim gegebenen Gebäude der Landwirtschaftlichen Genossenschaften lassen noch riesige Stallanlagen erkennen. Grundsätzlich lebten die Menschen hier in erheblichen Maßen wohl von der Herstellung von Glas- und Tonwaren und arbeiteten in großen Fabriken und/oder Herstellungsbetrieben. Zudem ließ die jahrelange zentralistisch gesteuerte Republik kaum eine selbstbestimmte Produktion anderer Waren zu. So wird die Landwirtschaft hier nur eine sekundäre Rolle gespielt haben und erholt sich, wenn überhaupt, nur langsam von den politischen Einflüssen. Andererseits wurde hier die Natur nicht so konsequent unter Einsatz von chemischen Mitteln ausgebeutet und eröffnet uns so die Möglichkeit, durch wunderschöne, ursprüngliche Landschaften zu wandern. Wanderungen, auf denen uns die verwunderten Blicke der sehr ursprünglichen schottischen Hochlandrinder begleiten.
Ich genoss die Natur aber oft schweiften meine Gedanken ab. Von 1961 bis 1989 teilte eine schmale graue Fläche dieses Land und die Menschen, die sich auf diesen Pfaden bewegten oder in Türmen übers Land blickten, sahen fast das gleichen Bild, wie wir es heute noch sehen können. Doch hatten sie einen zweifelhaften Auftrag zu erledigen. Ihre Landsleute, deren Leben zu schützen sie geschworen hatten, wurden von ihnen bewacht und daran gehindert, ihr „Vaterland“ zu verlassen. Überall erinnern Tafeln an das Schicksal dieser Menschen, die einfach versucht hatten, ihr Schicksal selber zu bestimmen und/oder es zu verändern. Ich will nicht beurteilen, ob das Leben hüben oder drüben besser war oder ist. Aber die Vorstellung, dass ich mein Land nur unter Lebensgefahr hätte verlassen dürfen, weil Diktatoren mich lieber hätten töten lassen wollten als zuzulassen, das meine Arbeitskraft den „imperialistischen Kapitalisten“ hätte dienen können, erfüllt mich mit Trauer und Wut.
Ein sozialistisches Land, dass in der kapitalistischen Welt ungeheure Schulden hatte, aber von dem geringen Kapital Grenzsoldaten und Kolonnenwege finanzierte und dem eigenen Volk Friede und Freiheit verwehrte erfüllt mich mit Grauen.
Ich lasse mich von der Melancholie nicht übermannen, aber wie viele traurige Geschichten wurden von diesem Nebel wohl schon in schauriger Gnade zugedeckt und lassen uns trotz allem hoffen, dass sich eine derartige Geschichte nicht wiederholt.
Obwohl – der Ruf nach Zäunen dringt immer wieder an unser Ohr. Die Medien zeigen immer wieder Betonburgen aus Palästina und auch zwischen den USA und Mexico fahren wieder Menschen Streife, um Grenzgänger an der Überquerung der Staatsgrenze zu hindern.
Und fragt mich ein Kind, ob jetzt alles besser sei und ob so etwas nochmals passieren könnte, fällt mir die Antwort darauf schwer. In der ach so aufgeklärten deutschen Gesellschaft erklingt schon wieder der Ruf nach Ausgrenzung und wahrlich seltsame Parteien konstituieren sich und ihre Worte finden oft Gehör in Ohren, die Opfer des Grauens dieser Zeit von 1961 – 1989 waren.
Also – was soll ich antworten?
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